Als es kein Trinkwasser mehr gab, sind sie aufgebrochen. An einem afghanischen Fluss kampieren 10.000 Menschen. Hier stirbt keiner am Durst, aber bald an Seuchen. Abdur Rauf ist der Letzte, der Albus verlassen hat. Gerade ist er in Scholgara angekommen, nun steht er ratlos zwischen den wenigen Dingen, die ihm geblieben sind: ein paar Töpfe und Pfannen, Kissen und Decken, die bessere Tage gesehen haben. "Ich würde das auch noch verkaufen, um etwas zu Essen zu besorgen, aber niemand will es haben", sagt der Mann mit dem dunklen Bart. Tränen stehen ihm in den Augen.
In letzter Minute ist er aus seinem Dorf in der nordafghanischen Provinz Balch geflohen, dort gibt es schon seit Wochen kein Wasser mehr. "Alle anderen sind schon vor vierzehn Tagen weggegangen, aber mein Bruder sitzt im Rollstuhl und niemand hat uns mitgenommen. Heute habe ich ihn vor ein durchfahrendes Auto geschoben und gesagt: Wenn ihr uns nicht hier rausbringt, stirbt dieser Junge."
"Wir sind auf dem Nullpunkt angekommen", sagt Tschak Mullah Scher, ein Geistlicher mit grauem Turban. "Wir hatten in diesem Jahr einen sehr kalten Winter, und dann hat es im Frühjahr überhaupt nicht geregnet. Auf den Feldern ist alles verdorrt, das Vieh ist gestorben. Die meisten haben verkauft, was sie loswurden, und sind dann hierher gekommen."
Obwohl die Flüchtlinge schon seit zwei Wochen bei vierzig Grad hier in der Wüste ausharren und die Medien in Afghanistan darüber berichtet haben, haben weder die Internationale Schutztruppe Isaf noch die Vereinten Nationen bisher Hilfe geschickt. "Es ist eine Katastrophe", sagt Nafisa Scharifi von der afghanischen Menschenrechtskommission. Gestern ist sie in Scholgara angekommen. "Es gibt so gut wie keine Hilfe, die Menschen leiden unter Dehydrierung wegen der Hitze, Durchfall und Augeninfektionen wegen des Staubes. Die Mütter haben aus Mangel an Wasser keine Milch für ihre Babys mehr."
Vor allem die kleinen Kinder in Scholgara liegen apathisch mit ihren Müttern in den heißen Zelten. Sonst gibt es keinen Schutz vor der brennenden Sonne. "Ich habe Durst, ich habe Kopfschmerzen, mir ist schwindelig, und mir tut der ganze Köper weh", sagt Aman Gul, eine Frau mit grünem Kopftuch und einer Tätowierung auf der Stirn. Ihre Beschwerden sind Symptome für Wassermangel. Die vierzigjährige Mutter von fünf Kindern sieht aus wie siebzig. Sie hat Angst. "Wir sterben hier", klagt sie.
"Die Kinder sind alle krank", sagt Mohammad Saer. Der Krankenpfleger arbeitet in dem Klinikzelt, das der Rote Halbmond vor ein paar Tagen hier aufgebaut hat. Saer ist überzeugt, dass erste Fälle von Typhus aufgetreten sind. Sicher können sich die Helfer nicht sein - hier in der Wüste haben sie kein Labor, um Blutproben zu analysieren. Auf einer Liege im Krankenzelt liegt sein Mitarbeiter Haq Sia am Tropf. Auch er ist dehydriert. "Wir haben 400 Tropfe mit Serum im ganzen Lager verteilt", sagt er. "Noch ist niemand gestorben, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit."
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taz.deBild: Symboldarstellung