11 August 2010

Die halbe Stadt weggerissen

LEH. Verwesungsgeruch, Angst vor Seuchen, überall Leichen. Einen erschütternden Augenzeugen-Bericht lieferte der Innviertler Wolfgang Stolzlechner gestern den OÖNachrichten aus der indischen Stadt Leh. Die Touristenhochburg wurde Freitagnacht von einer Schlammlawine zerstört.

OÖN: Herr Stolzlechner, zunächst: wie geht es Ihnen?

Stolzlechner: Es geht mir ganz gut. Ich hatte Glück und bin der Katastrophe haarscharf entgangen. Das Gästehaus, in dem ich wohne, ist 500 Meter Luftlinie von jenem Stadtteil entfernt, der von einer Mure weggerissen wurde. Die halbe Stadt ist weg.


OÖN: Wo befinden Sie sich derzeit?

Stolzlechner: Ich bin noch immer in Leh. Auf dem Landweg gibt es keine Chance aus der Stadt rauszukommen, weil alle Straßen vermurt sind und das wahrscheinlich noch für Wochen.

OÖN: Was haben Sie von der Schlammflut miterlebt?

Stolzlechner: Das ganze passierte Freitag Nacht. Es gab ein Unwetter und es hat extrem stark zu regnen begonnen. Das Ganze hat nicht länger als eine Stunde gedauert. Das einzige, das ich mitbekommen habe war, dass es in mein Gästehaus geregnet hat. Es ist eine extrem trockene Gegend hier.

OÖN: Und wann haben Sie das wahre Ausmaß erkannt?

Stolzlechner: Das richtige Ausmaß hab ich erst am nächsten Tag gesehen. Häuser, Straßen, Autos - die Flut hat alles mitgerissen. Überall waren Leichen. Die indische Regierung spricht von 140 Toten. Das ist Blödsinn, im Leichenschauhaus hier liegen schon mehr. Die Überlebenden graben mit bloßen Händen nach den Menschen. Das Problem ist nicht Leh, sondern das sind die abgeschnittenen Bergdörfer. Bis jetzt sind noch keine Rettungskräfte dort hingekommen, weil es so unwegsam ist.

OÖN: Woher haben Sie diese Information?

Stolzlechner: Ich habe grade mit einem Grazer und zwei Burgenländern gesprochen, die sich zwei Tage lang zu Fuß aus einem verschütteten Tal heraus gekämpft haben. Das war der pure Überlebenskampf. Dazu muss ich sagen: alle Touristen, mit denen ich geredet habe, waren auf geführten Touren unterwegs. Das ist eine Jahrhundertkatastrophe.

OÖN: Hatten Sie Angst um Ihr Leben?

Stolzlechner: Die Angst ist eher am zweiten Tag gekommen. Für die zweite Nacht waren wieder heftige Regenfälle angekündigt, die Flüsse sind wieder gestiegen. Da haben wir einen Notfallrucksack gepackt mit Geld, den Papieren und Schlafsack und sind auf den Hügel geflüchtet. Dort waren auch bereits hunderte Einheimische.

OÖN: Und derzeit? Wie ist die Lage vier Tage nach der Katastrophe?

Stolzlechner: Eigentlich ist es ruhig, eher gespenstisch ruhig. Die Einheimischen ertragen das mit bewundernswerter Fassung. Die Verpflegung ist so weit gesichert, von Delhi kommen auch langsam Hilfslieferungen an. Es ist Erntezeit hier, es gibt also Obst und Gemüse. Nahrung ist kein Problem – noch nicht. Aber die medizinische Versorgung stockt. Der Kontakt nach außen war das größte Problem, weil alles gekappt wurde. Es gibt nur einen einzigen Handybetreiber hier, dessen Handys funktionieren. Einheimische haben mir ein Leihhandy gegeben und ich hab dann eine SMS rausgeschickt.

OÖN: Es werden laufend Touristen ausgeflogen. Wann können Sie heim?

Stolzlechner: Mein Flug ist am 15. August. Ich hoffe, es klappt. Es ist schwierig ein Flugticket zu ergattern, um früher wegzukommen. Da muss man Unsummen zahlen.

OÖN: Wie verhält man sich als Tourist: Versucht man zu helfen oder ist man zum Zuschauen gezwungen?

Stolzlechner: Leh ist eine Touristenhochburg. Es werden überall Schilder aufgehängt, dass freiwillige Helfer gesucht werden, die beim Graben helfen. Ich bin eher journalistisch unterwegs, möchte eine Spendenaktion initiieren.

OÖN: Angeblich hat man fünf tote Touristen auf einem Trekkingpfad nahe Leh gefunden. Wissen Sie etwas darüber?

Stolzlechner: Was ich weiß ist, es wurde heute eine Gruppe Österreicher und Deutscher mit dem Militärhubschrauber ausgeflogen. Die haben Todesängste ausgestanden. Sie waren in einem Tal eingeschlossen, in dem das Wasser immer höher gestiegen ist.

OÖN: Es gibt ja immer noch Leute, die trotz Warnungen in die Gegend fahren...

Stolzlechner: Wenn man Lust hat, hunderte Tote und eine verwüstete Stadt zu sehen. Das ist extrem fahrlässig. Du kannst, wenn du in Leh landest, nicht auf die Straße heraus. Alles ist vermurt.

OÖN: Sie haben mit viel Glück überlebt, aber kann man das Gesehene überhaupt verarbeiten?

Stolzlechner: Man versucht, die Emotionen so lange zurückzuhalten, wie es geht. Aber gestern als vor meinen Augen eine Leiche ausgegraben wurde, hab ich gehen müssen. Das hab ich nicht gepackt. Auf den Straßen macht sich Verwesungsgeruch breit. Die Leute haben Angst vor Seuchen.

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