20 November 2010

Erzwungener Sex für sauberes Trinkwasser

Das Totalversagen der staatlichen Institutionen beim Bekämpfen der Cholera treibt die Haitianer ins Chaos. Die Situation gebiert Helden und Verbrecher.

Für Desiral Mackinzi beginnt der Tag mit keiner guten Nachricht. Eine Gruppe von Frauen im Zeltlager „Delmas56“ sorgt seit einiger Zeit für Ärger. Es geht um neue Latrinen und eine Cholera-Behandlungseinheit, deren Fundament schon steht, aber die niemand haben will. Die Stimmung im Lager droht zu kippen. Mackinzi versucht die Probleme erst einmal wegzulächeln. Der schlanke Mann wirkt auf den ersten Blick gar nicht wie ein Anführer von rund 5000 Lagerbewohnern.

Er leidet an Kinderlähmung, seine Hose hat große Löcher und er kann sich nur humpelnd fortbewegen. Und trotzdem ist dieser Mann ein Hoffnungsträger. „Wir versuchen hier das Beste aus der Situation zu machen. Es muss ja irgendwie weitergehen“, sagt der 34-Jährige in einem Tonfall, der für Pessimismus keinen Raum lässt.

Was sich im Lager „Delmas 56“ in der haitischen Hauptstadt Port-au-Prince in diesen Tagen im Kleinen abspielt, durchlebt derzeit das leidgeprüfte Land im Großen. Es ist der Kampf gegen die eigene Angst, die Unwissenheit, bewusst gezielt gestreute Gerüchte und eine Prise unendlicher Hoffnungslosigkeit und Frustration.


Die Hilfsorganisation Save the Children greift den Menschen in „Delmas 56“ unter die Arme. Vor allem die Kinder dort sollen im Chaos der Baustein für eine bessere Zukunft Haitis sein. Schützt man die Kinder und bildet sie aus, können sie das Land nachhaltig verändern, glaubt die Organisation.


Nun steht deren Ärztin Marlene de Tavernier vor einem knapp 15 Quadratmeter großen Fundament und strahlt über das ganze Gesicht. „Was Sie hier sehen, ist der Erfolg einer harten Verhandlung“, sagt die Französin stolz. In dem völlig überfüllten Lager ist Platz ein kostbares Gut, tagelang haben Mackinzi und das medizinische Personal mit den Bewohnern verhandelt. Nun sind alle ein paar Zentimeter beiseite gerückt, jeder hat ein kleines Stückchen seines Zeltplatzes abgegeben, damit in der Mitte des Lagers eine Behandlungsstation aufgebaut werden kann.
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Zwei einheimische Ingenieure haben die Baupläne gezeichnet, das Fundament steht. Hier sollen, falls die Cholera auf das Lager übergreift, die Kranken isoliert und gezielt behandelt werden. So haben es sich die weißen Helfer ausgedacht und es mit Mackinzi abgestimmt. Doch im Lager brodelt es. „Wir müssen heute vorsichtig sein. Bitte machen Sie von den Menschen keine Fotos. Die Lage ist angespannt“, rät Helferin Sophie Perreard der kleinen Gruppe Journalisten, die das Lager besucht.

Die Bewohner sind skeptisch. Es gibt in ihrem Lager keine Cholera, warum also eine Krankenstation, fragen sie. Mit verschränkten Armen verfolgen die Menschen die Bauarbeiten. Doch überzeugt sind sie nicht. Im ganzen Land gibt es Proteste. Wütende Demonstranten werfen den UN-Soldaten vor, die Cholera erst ins Land gebracht zu haben.

Seit über 100 Jahren soll es auf der Karibikinsel keine Fälle der Krankheit mehr gegeben haben. Jedenfalls kann sich keiner der Ärzte, die in Haiti das verheerende Erdbeben vom 12.Januar überlebt haben, an einen Fall erinnern. De Tavernier weiß, dass nach mehr als 1000 Toten und mehreren Zehntausend Kranken die Cholera auch auf das Lager übergreifen kann. Sie will vorbereitet sein. Die im Lager tonangebenden Frauen aber sind dagegen. Wollen die Ausländer uns jetzt auch die Cholera ins Lager bringen?

Nun brennen die Autoreifen und fliegen die Steine. In Cap Haitien, der zweitgrößten Stadt Haitis, ist die Lage besonders angespannt. Straßensperren sorgen gut eine Woche vor den mit Spannung erwarteten Präsidentenwahlen am 28. November für Chaos in der Provinz. Dass die UN-Soldaten auf aufgebrachte Demonstranten schießen müssen, um sich selbst zu schützen, heizt die Situation zusätzlich auf. Die Demonstranten wollen, dass die UN-Schutztruppe verschwindet. Eine aberwitzige Forderung angesichts des völligen Versagens der staatlichen Institutionen, für Disziplin und Ordnung im Land zu sorgen. Wenn überhaupt etwas im Land funktioniert, dann sind es die von den Hilfsorganisationen oder der UN-Truppe geleiteten Maßnahmen.

Hinter den Unruhen stehen vor allem die lokale Mafia und deren Handlanger in der Politik. Sie erhoffen sich von den Straßenschlachten einen Stimmenschub. Und größere Machtbefugnisse. Würden die UN-Truppen und die Hilfsorganisationen tatsächlich abziehen, entstünde ein Machtvakuum, das so manche lokale Gangstergröße gern mit eigenen Kämpfern füllen würde. Haitis Mafia hat ein großes Interesse daran, dass Land weiter politisch zu destabilisieren. Sie träumt von somalischen Verhältnissen.

In diesem Spannungsfeld führt Mackinzi täglich einen Kampf um die richtige Balance. Es gilt, die ungeschriebenen Gesetze des Lagers und deren starker Hintermänner einzuhalten und gleichzeitig die notwendigen Maßnahmen umzusetzen. Mackinzi entscheidet sich für eine nahezu unschlagbare Taktik: Er lächelt. Der Mann strahlt wegen seiner Behinderung keinerlei Gefahr für die eigentlichen Machthaber im Lager aus. Er setzt stattdessen auf Diplomatie und Überzeugungsarbeit. In seinen Händen hält er vierseitiges, buntes Comic. „Wir zeigen den Menschen, was sie tun müssen, um sich nicht anzustecken“, erklärt er.

Unzählige Kondomverpackungen auf der Erde

Wer nicht lesen kann oder nicht zuhören will, kann in einer ruhigen Minute auf den Plan schauen. Davon gibt es genug im Zeltlager. Rund 60 Prozent Arbeitslosigkeit soll es auf Haiti geben, glaubt man der aktuellen Statistik. Deswegen werden die Tage im Lager lang. Wie die Menschen die Zeit verbringen, wird bei einem Blick auf den Lagerboden deutlich. Unzählige silberne Kondomverpackungen liegen auf der Erde. Familienplanung und der Schutz vor Aids scheinen jedenfalls zu funktionieren.

Nicht immer aber geht es dabei freiwillig zu. Berichte über erzwungenen Sex im Gegenzug für Nahrungsmittel und Trinkwasser wabern durch das Lager. Wer nichts mehr hat, um zu tauschen, der bietet als letztes Zahlungsmittel seinen Körper an. Save the Children hat deswegen eigens einen Kinderschutzmanager eingestellt. Der Mann leistet ein kleines Wunder, doch überall kann auch er seine Augen nicht haben.

Zwei knappe Autostunden später in Leogane steht die siebenjährige Claudette im Mittelpunkt: Sie soll der Klasse zeigen, wie man sich richtig die Hände wäscht. Das Kind ist mit Eifer bei der Sache. Bis zu den Ellbogen sind Hände und Arme mit den Blasen der Seifenlauge bedeckt. Nun hilft die Lehrerin dabei, mit einem Teller Wasser die Seife abzuspülen. „Sehr gut“, lobt die Lehrerin und wendet sich der Klasse zu. „Habt ihr das alle gesehen?“

Es sind diese kleinen Gesten, die Hoffnung machen, dass es in diesem Land vielleicht doch einen Ausweg gibt. Und es sind Hoffnungsträger wie Desiral Mackinzi, die beweisen, dass Haiti durchaus regierbar sein kann. In allen mehr als 300 Lagern der Hauptstadt gibt es sogenannte Zeltstadt-Bürgermeister. Ihnen steht ein richtiges Kabinett zur Seite. Kultur, Sport, Gesundheit, Frauen oder Soziales sind die Ressorts. Nicht alle dieser Anführer sind akzeptiert, gewählt oder dazu befähigt, aber sie erfüllen eine wichtige Funktion. Dass es bislang in Haiti weitgehend ruhig geblieben ist, ist auch ein Erfolg der Zusammenarbeit dieser Mini-Regierungen mit den Hilfsorganisationen.
Cholera fordert mehr als 900 Tote

Der Staat hat sich längst als ordnungspolitische Macht verabschiedet, hier aber wächst ein neues zartes Pflänzchen von Demokratie heran. Es beweist auch, dass die Haitianer in der Lage sind, friedlich und diszipliniert zusammenzuleben, wenn die Rahmenbedingen menschenwürdig sind. Allerdings funktioniert das bislang nur mit Hilfe von außen, und solange frisches Trinkwasser und Nahrungsmittel von der internationalen Staatengemeinschaft geliefert werden.

Aber schon bald werden die Töpfe leer sein, schon jetzt bewegen sich zahlreiche Hilfsorganisationen finanziell im roten Bereich. Gelingt einer neuen Regierung nicht die Kehrtwende und der Aufbau grundlegender staatlicher Institutionen wie Müllabfuhr, Gesundheitswesen, einer funktionierenden Polizei und vor allem die Schaffung von Arbeitsplätzen, dann wird Haiti mit einer Verspätung erst die richtige Katastrophe erleben. Nämlich dann, wenn all die Helfer abgezogen sind, die das Land derzeit mühsam zusammenhalten.

Nur ein Bruchteil der zugesagten Spenden der Geberkonferenz vor einigen Monaten ist tatsächlich eingetroffen. Venezuelas politischer Lautsprecher, Präsident Hugo Chávez, hatte wie die USA Milliarden zugesagt, doch es blieb bislang bei leeren Versprechungen. Der Präsident von Caritas International, Kardinal Óscar Rodríguez Maradiaga aus Honduras, fordert die Weltgemeinschaft auf, zu ihren Zusagen zu stehen: „Ich wünsche mir, dass endlich diese Versprechen eingelöst werden, damit die Misere der Haitianer und die strukturelle Armut in diesem leidgeprüften Land endlich bekämpft werden kann.“

Am Ende des Tages aber kann sich Lager Delmas56 über einen kleinen Sieg freuen. Die neuen Latrinen sind fertig. Bislang erledigten die Menschen ihr Geschäft in der freien Natur, die neuen Holzbuden auf festem Fundament sollen nun helfen, das Lager ein Stück weit sauberer und damit auch gesünder zu machen. Desiral Mackinzi hat es geschafft, auch wenn er einigen Widerstand überwinden musste. Jetzt setzt er wieder sein unschlagbares Lächeln auf: „Heute Abend sind die Latrinen einsatzbereit.“
Quelle: www.welt.de

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