17 Juli 2010

Wenn die Katastrophe Alltag wird

Sechs Monate nach dem Erdbeben in Haiti sind viele Hilfsorganisationen abgezogen und die Trümmer geblieben

Port-au-Prince/Wien. Es waren Bilder und Eindrücke, die das moderne Medienzeitalter bisher nur vom großen Tsunami im Jahr 2004 kannte. Port-au-Prince, die offiziell 1,2 Millionen Einwohner umfassende Hauptstadt Haitis, hatte in der bisherigen Form zu existieren aufgehört. Wo ehemals Wohnhäuser, Schulen und Spitäler standen, war plötzlich nur noch eine allumfassende Schutthalde. Zwischen den staubigen Trümmern strichen Menschen wie Geister umher und versuchten zu fassen, was das verheerenden Erdbeben vom 12. Jänner ihnen angetan hatte. Bis zu 300.000 Menschen waren umgekommen und noch viel mehr verletzt worden. Die Zahl der Obdachlosen lag bei einer Million Menschen.

Angesichts des unfassbaren Leids dominierte der zuvor schon bitterarme Karibikstaat über Wochen die Schlagzeilen, die großen internationalen Hilfsorganisationen lieferten einander einen regelrechten Wettlauf darum, wer als Erster und am besten hilft. Und auch die internationale Staatengemeinschaft öffnete ihr Herz und ihre Brieftasche. Bei einer großen Geberkonferenz Ende März wurden Haiti 9,9 Milliarden Dollar an Unterstützung zugesagt.

Heute, sechs Monate nach dem Beben, ist Haiti bestenfalls zur Randnotiz in der internationalen Medienlandschaft verkommen, und auch viele Ersthelfer sind bereits wieder abgezogen. Doch die Situation ist für viele Haitianer noch immer prekär. Vor allem in Port-au-Prince, diesem Moloch mit seinen zahllosen Elendssiedlungen, gleichen die Bilder heute oft noch jenen von vor drei, vier Monaten. "In der Stadt gibt es kaum eine freie Fläche, die nicht von Zeltlagern bedeckt ist", sagt Georg Ecker, ein Rot-Kreuz-Helfer, der vor einer Woche aus Haiti zurückgekehrt ist, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Zu groß war hier die Zerstörung, als dass die Lastwägen den Abtransport des Schutts schon zufriedenstellend hätten bewältigen können.

Leben auf der Straße

Für die Menschen bedeuten die noch immer großteils in Trümmern liegenden Häuser ein kontinuierliches Leben im Ausnahmezustand. "Die Märkte, der Aufenthalt der Menschen, die Arbeit – alles, was sich vorher in den Häusern abgespielt hat, passiert jetzt auf den Straßen", sagt Ecker.

Außerhalb der Hauptstadt sieht es vielerorts nicht viel besser aus. "Wenn man von Leogane nach Port-au-Prince fährt, merkt man entlang der Straße nichts vom internationalen Wiederaufbau", erzählt Maria Wagner. Die 43-Jährige war in der rund 60 Kilometer von Port-au-Prince entfernt liegenden Provinzstadt, in der das Beben 90 Prozent der Häuser dem Erdboden gleichmachte, zwei Monate lang als OP-Schwester für die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" im Einsatz.

"Internationale Hilfe findet nur genau dort statt, wo ein konkretes Projekt ist", sagt Wagner, "rundherum braucht es noch sehr viel Arbeit und Aufbauhilfe." Denn in Eigenregie können die Haitianer oft nur wenig bewegen. Viele Menschen versuchten, ob der Ausweglosigkeit des Unterfangens, oft gar nicht, ihre Häuser wieder aufzubauen, erzählt Wagner. "Im Augenblick kann einer aufbauen und 99 müssen warten, bis Material und Arbeitskräfte frei sind." Hinzu kommt die fehlende Zeit. Die Sicherung des täglichen Überlebens durch Gelegenheitsjobs – oft im Umfeld der Hilfsorganisationen – hat Vorrang gegenüber dem Wiederaufbau des eigenen Hauses.

Verbesserte Hygiene

Doch es gibt auch Lichtblicke in Haiti. "Im Vergleich zu vor drei Monaten haben sich die Zeltlager massiv verbessert. Hier stehen jetzt handelsübliche Zelte und nicht solche, die notdürftig aus Planen zusammengezimmert wurden", sagt Rot-Kreuz-Helfer Ecker. Und auch in dem Bereich, in dem der 47-Jährige die letzten zwei Monate über gearbeitet hat, gibt es Fortschritte. "Die Sanitär- und Hygieneverhältnisse in den Lagern haben sich sehr deutlich verbessert", meint er. Die Versorgung mit Trinkwasser und die Fäkalien-Entsorgung funktionieren mittlerweile sehr gut. "Dass es zu so gut wie keinem Ausbruch von Seuchen gekommen ist, ist ein sehr großer Erfolg", sagt Ecker. Allerdings sei die Lage in seinem Haupteinsatzgebiet Leogane aufgrund der ländlichen Struktur viel einfacher zu bewältigen gewesen als in Port-au-Prince.

Die Haitianer selbst haben sich laut den beiden Helfern schon seit längerem mit der Situation arrangiert. "Die Leute müssen täglich ums Überleben kämpfen und schauen, wie sie ihre Familien versorgen können. Da hat ganz einfach der Alltag wieder einkehren müssen", sagt Ecker. Und trotz der ab und zu aufkommenden Frustrationen über Verzögerungen bei den Hilfsbemühungen herrscht laut Ecker und Wagner vor allem Dankbarkeit darüber vor, dass überhaupt jemand da ist, der hilft.
Quelle: Ronald Schönhuber / wienerZeitung

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