03 Januar 2011

Pioniergeist im Roten Kreuz

Hans Polster, von 1970 bis 2002 Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes (ÖRK), ist in der Nacht zum 28. Dezember im 76. Lebensjahr verstorben. Ein Nachruf von Wolfgang Kopetzky, Nachfolger von Hans Polster als ÖRK-Generalsekretär.

Dass man helfen muss, wenn man helfen kann: Diesen humanitären Imperativ hat Hans Polster schon früh in sich aufgesogen. Die Armut seiner Kindheit „war damals leichter erträglich, weil du nicht der Einzige warst, der nichts hatte“, erinnerte er sich einmal. Aber auch: „Diese Zeit hat natürlich geprägt.“ Er hat es als Privileg empfunden, die „Hilfe für jene, die sich aus eigener Kraft nicht helfen können“ zu seiner zentralen Lebensaufgabe gemacht zu haben. Wenn aus dem Impuls zu helfen eine wirksame Aktion werden soll, das wusste er, dann braucht sie aber auch Organisation. Im Jahr 1970 hat Hans Polster das notwendige Vehikel dafür gefunden: Der Berufsoffizier und leidenschaftliche Fallschirmspringer wurde Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes.
 Unter ihm ist der Verein zu einer schlagkräftigen Hilfsorganisation und zu einem professionellen Non-Profit-Unternehmen gewachsen. Dass der Rotkreuz-Grundsatz der Unabhängigkeit auch die finanzielle Unabhängigkeit einschließt, ist ihm früh klar gewesen, deshalb hat er für sie gesorgt: „Vertreter politischer Parteien und auch anderer Interessensvertretungen sind manchmal geneigt, eher jemandem Unterstützung zu geben, wenn sie sagen können, der agiert in unserem Sinne oder veranlasst Hilfe in unserem Interesse.“ Hans Polsters Rotes Kreuz hat das konsequent ablehnen können.

Das neue Rote Kreuz

In seine Amtsperiode fällt neben unzähligen Neuerungen auch die Pionierphase der Blutspendezentrale für Wien, Niederösterreich und das Burgenland. Dass ein freiwilliger Rotkreuz-Blutspendedienst die nötige Zahl von Blutkonserven zur Versorgung der Spitäler aufbringen könnte, konnten sich damals viele nicht vorstellen. Er kann es bis heute. „Viele unserer Blutspender würden gegen Bezahlung niemals spenden. Das ist das Geheimnis“, erklärte Hans Polster. Tatsächlich war die Blutbank des Allgemeinen Krankenhauses, die ihre Spender bezahlte, nicht imstande, ausreichend Blutspenden abzunehmen. „Sie haben bei uns Konserven bestellt, bis Anfang der siebziger Jahre, als das Rote Kreuz die Blutbank übernommen hat“, erinnerte sich der damalige Generalsekretär. Wer fragte, warum das Rote Kreuz den riskanten Schritt, ins Blutspendewesen einzusteigen, unternommen hat, erhielt eine typische Hans Polster-Antwort: „Wir konnten es uns eben vorstellen.“

In seinem Heimatort Oberschützen im Burgenland hatte Hans Polster noch den Friseurgehilfen als diensthabenden Rettungssanitäter erlebt. Im Notfall wurde er vom Postfräulein alarmiert, der Rettungswagen parkte vor dem Friseurgeschäft. Noch bei Hans Polsters Amtsantritt umfasste die Sanitäterausbildung nur einen 16-stündigen Erste-Hilfe-Kurs. Am Ende seiner Periode als Generalsekretär verfügte das Rote Kreuz über 442 rund um die Uhr besetzte Dienststellen. Ein von Hans Polster mitentwickeltes Sanitätergesetz garantiert bis heute die Top-Ausbildung der Retter, die jedes Jahr über zwei Millionen Menschen zu Hilfe kommen. Neuerungssucht war ihm ein Gräuel. Aber er fand, dass das Rote Kreuz auf der Höhe der Zeit zu sein hat, wenn wirksam Hilfe geleistet werden soll. Deshalb unterstützte er auch eine Idee, die einen Paradigmenwechsel im Rettungsdienst einleitete: Bei akuten Notfällen wird nicht der Patient zum Arzt, sondern der Arzt zum Patienten gebracht. Daraus ist das flächendeckende Notarztsystem entstanden, das heute Rettung am Boden und aus der Luft bringt. Hans Polster hat dem Mantra der modernen Notfallmedizin – erstversorgen, stabilisieren, transportieren – die Tür ins Österreichische Rote Kreuz geöffnet.


Was wir über die Welt wissen …

Solche Leistungen in Verbindung mit seiner Person ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen war ihm weniger sympathisch. Der mediale Meinungslärm, bei dem das Argument durch Image und der gute Ruf durch Prominenz ersetzt wird, hat ihm nicht behagt. Trotzdem hat er so wie Niklas Luhmann – aber lange vor ihm – erfasst: Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. Deshalb würde auch das Rote Kreuz nicht länger ohne eine gut ausgestattete Kommunikationsabteilung auskommen. Als die zu arbeiten begann, war er ihr schon wieder einen Schritt voraus: Er sah ihre Aufgabe auch darin, bisweilen gerade nicht zu kommunizieren. Als am Beginn der Kriege auf dem Balkan eine hochschwangere Frau im Niemandsland zwischen Slowenien und Österreich gefangen war und weder vor noch zurück konnte, klingelte er mitten in der Nacht einen Beamten des Innenministeriums aus dem Bett und unterbreitete ihm einen Vorschlag: Er möge doch dafür sorgen, dass die Frau zur medizinischen Versorgung auf österreichisches Staatsgebiet gebracht werde. Sollte das nicht möglich sein, biete sich das Rote Kreuz an, im Niemandsland unverzüglich ein Feldspital einzurichten. Dadurch könnten aber auch Horden von Journalisten angezogen werden, bedauerte er am Telefon. Die jungen Medienmitarbeiter litten: Was für Schlagzeilen, welche Fernsehbilder hätte die Aktion gebracht! Hans Polster erreichte sein Ziel auch so: Es dauerte keine zwei Stunden, und die Frau wurde auf Anweisung des Ministeriums in einem österreichischen Krankenhaus versorgt. Und: Das Verhältnis zur Behörde blieb intakt.

Mut zur Veränderung

Die neue Rotkreuz-Öffentlichkeitsarbeit durfte allerdings offensiv loslegen, wenn das der Erreichung eines humanitären Ziels besser diente. Mitte der neunziger Jahre wurde in Vorgesprächen mit der Landesverteidigung abgetestet, wie die Spitzen des Bundesheeres auf eine Rotkreuz-Kampagne für ein Verbot von Anti-Personen-Minen reagieren würden. Einerseits stammten damals immerhin zehn Prozent der Blutspender aus dem Heer. Andererseits waren Anti-Personen-Minen unterschiedslos wirkende Waffen, die vor allem Zivilisten trafen, somit vom humanitären Völkerrecht – dessen Hüter das Rote Kreuz ist – verboten. Aber auch Österreich stellte welche her, das Bundesheer hatte sie in seinen Beständen. Die Militärs waren not amused. Auf Befremden stieß auch, dass die Organisation, die eine solche Initiative überlegte, ausgerechnet von einem ehemaligen Berufsoffizier gemanagt wurde. Für Hans Polster gewann das bessere Argument: Nicht Soldaten, sondern in erster Linie Bauern, Frauen beim Wasserholen, Kinder beim Spielen wurden zu Opfern dieser Waffen, die noch lange nach dem Ende von Kriegen im Boden liegen blieben. Mit dem Satz „Wir haben die Opfer im Kopf“, beendete Hans Polster die Debatte. Die Kampagne fand statt. Österreich war 1997 das erste Land der Welt, das Anti-Personen-Minen per Bundesgesetz verbot. Das Verbotsgesetz wurde im Österreichischen Roten Kreuz geschrieben und kurz darauf zum Vorbild für das internationale Ottawa-Abkommen: Die Konvention für ein weltweites Verbot von Anti-Personen-Minen.
Hans Polster hatte auch die seltene Eigenschaft, nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Er dirigierte jahrzehntelang einen wesentlichen Bestandteil einer weltweit verzahnten Hilfsmaschinerie. Viele der internationalen Hilfeinsätze des Österreichischen Roten Kreuzes leitete er selbst und betrieb – als die Organisation größer und die Aufgabenvielfalt umfangreicher wurde – den Ausbau der Abteilung für Internationale Hilfe und ihre ständige Professionalisierung. Die Nöte und Schicksale einzelner Menschen gerieten dabei nie aus seinem Blickfeld. In Wut brachte ihn, dass Menschen wegen der Ignoranz derer, die über sie verfügen konnten, ein Leben im Elend führen mussten. Seinen Zorn entfachte, dass daran auch eine Organisation beträchtlicher Größe wie das Rote Kreuz wenig ändern konnte. Wo sein Handlungsspielraum hinreichte, war er dafür schnell. „Einmal im Leben möchte ich nicht mehr frieren“, sagte eine Frau in Italien zu ihm. Er ließ ihr ein neues Haus bauen. Ein völlig verzweifelter Rumäne wandte sich nach einem Unfall, der ihn verstümmelt hatte, an das Rote Kreuz. Hans Polster ließ ihn prothetisch versorgen. Ein Fernfahrer überlebte einen Unfall in Griechenland nur, weil der Rotkreuz-Chef Blutkonserven per Linienflug nach Athen schicken ließ. Seine Öffentlichkeitsarbeiter ernteten für den Hinweis, dass Einzelschicksale bei den Medien besonders beliebt und zudem geeignet wären, ihn und das Rote Kreuz ins rechte Licht zu rücken, einen durchdringenden Blick und die schnarrende Antwort: „Schreiben´s, wie morgen das Wetter wird. Das interessiert die Leut´.“ Medaillen und Kugeln, meinte der Generalsekretär, der selbst so viele andere mit Orden ausgezeichnet hatte, träfen meistens die Falschen.

Prinzip Geradlinigkeit

Nach Jahrzehnten im Roten Kreuz hätte er auf Vieles zufrieden zurückblicken können. Trotzdem gab er auf die Frage, was ihn nach 32 Jahren als Generalsekretär besonders stolz mache, ausgerechnet die Antwort: „Ich war immer ungeheuer glücklich, wenn ich von Mitarbeitern gehört habe, dass sie sich freuen, am Morgen in dieses Haus zu gehen. Dass sie gerne zur Arbeit kommen.“ Er war eine Führungskraft wie aus dem Lehrbuch, die ihre Aufgabe nicht darin sieht, ständig selbst die neuesten Ideen und die knalligsten Vorschläge zu haben. Sondern die ihre Mitarbeiter ermutigt, Stärken zu entfalten, Möglichkeiten zu entdecken, Notwendigkeiten zur Veränderung zu erkennen und Verantwortung dafür zu übernehmen: Hilfe zur Selbsthilfe als Management-Grundsatz. Tiefe Dankbarkeit empfinde er gegenüber all jenen Menschen, die ihn in seiner Zeit beim Roten Kreuz begleitet hätten, hat Hans Polster einmal erklärt, „eine Dankbarkeit, die ich vielleicht nicht immer gebührend und in vollem Umfang zum Ausdruck gebracht habe“. Das gilt wohl auch für seine Mitarbeiter, die mit ihrer Wertschätzung ihm gegenüber zu seinen Lebzeiten lieber zurückhaltend waren: Er hätte das als Schmeichelei empfinden können, und dafür war er nicht empfänglich.
Auch die Erkrankung konnte seiner Geradlinigkeit, seinen starken Prinzipien und seinem aufrechten Gang nichts anhaben. Die Operationen ertrug er. Die tatsächliche Schwere seiner Krankheit verschwieg er. Deshalb überraschten seine Worte bei seinem letzten Besuch wenige Tage vor seinem Tod: „Ich bin ein Fatalist. Wenn Deine Zeit gekommen ist, dann ist sie eben gekommen.“ Erst ganz zuletzt hat die Krankheit seinen sonst unbeugsamen Willen gebrochen. Hans Polster ist in der Nacht zum 28. Dezember im 76. Lebensjahr gestorben.
Quelle: Rotes Kreuz

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